Sterbeprozess


Jede Nacht wache ich um 3.00 Uhr morgens auf. Ganz egal, wann ich zu Bett gegangen bin, ob ich gut oder schlecht geschlafen habe. Punkt drei werde ich wach und muss aufs Klo. Drei Uhr, das ist eine magische Uhrzeit, die man aus Grusel- und Horrorfilmen kennt. Es ist die tatsächliche Geisterstunde, die Zeit also, in der es am häufigsten und heftigsten spukt oder Dämonen besonders aktiv sind.

Jede Nacht also schäle ich mich um drei Uhr aus dem nassgeschwitzten Bett. Dabei tun mir alle Knochen weh, in der Schulter sticht es, das Kreuz ist kaum gerade zu bekommen, die Muskeln jodeln und ich kriege mich kaum in die Aufrechte. Endlich auf den Beinen, sackt dann gerne der Kreislauf ab. Zombiehaft stakse ich durch die Dunkelheit, ganz langsam, Schritt für Schritt und mit ausgestreckten Armen, um nicht irgendwo dagegenzuknallen. Eine Leiche auf Urlaub.

Fünf Meter weiter im Badezimmer sacke ich dann auf der Schüssel zusammen und muss mich erstmal ausruhen, muss wieder zu mir kommen, wieder Kräfte sammeln. Es kann vorkommen, dass ich mit runtergezogener Hose einschlafe und erst in der Morgendämmerung wieder aufwache. Meistens kann ich meinen Greisenkörper aber nach dem mühevollen Geschäft wieder aufrichten und ins Bett zurück schlurfen. Manchmal sitzt diese schattenhafte alte Frau im Wohnzimmer und starrt vor sich hin. Ich weiß nicht, wessen Geist sie ist.

Neulich war die Zimmertür im Weg. Mit voller Wucht bin ich mit den Zehen gegen sie getreten, genau in den Spalt zwischen Tür und Fußboden. Habe die Füße wie immer beim Gehen kaum hochgekriegt und beim Nach-vorne-Schlurfen an das Holz gehauen. AuaAuaAuaAua. Aus Versehen, Ungeschick, grobmotorischem Furor oder Blödheit. Zu ungeschickt um heil aufs Klo zu kommen. Den mittleren Zeh hat es dabei voll erwischt, Phalanx Proximalis komplett im Eimer, einfach zerdeppert. Der komplette Fuß brannte, teuflischer Tiefenschmerz breitete sich aus, war kaum zu ertragen, trieb mir Tränen in die Augen. Irgendwann ließ er nach, zurück blieb ein dumpfes Pulsieren.

Am nächsten Morgen dann der Blick auf die Bescherung: Der Zeh war blaurot angelaufen, jeder Schritt eine Qual. Irgendwas schliff darin, höllische Schmerzen beim Bewegen. Auch in der Ruheposition keine Erlösung, mein neues Stigma geißelte mich unablässig. Zeh gebrochen. Auch das noch. Als ob alles nicht schon kaputt und schmerzhaft genug wäre.

Aber irgendwie kam es darauf auch nicht mehr an. Schulter kaputt, Rücken auch, Organe zerschlissen, Zähne marode, dazu noch Hör-, Seh- und Blasenschwäche. Und dann der Gestank und dieser viele Talg, all dieses stinkende Zeug aus den vielen Löchern und Wunden. Bald muss die barrierefreie Wohnung her, dann das Zeug für die Inkontinenz, dann die Prothesen, das künstliche Gebiss, die Krücken, die Binden und Wickel, dann der Sarg und das Grab. Sterben ist ein Prozess. Ich bin mittendrin.